Ursprünglich stand das Wort für die Reinigung durch Besprengung mit Wasser oder dem Blut eines Opfertieres, aber auch Ausgleichung und Entladung. Insbesondere bezeichnete man damit die Weihereinigung bei den Eleusinischen Mysterien, die das Individuum vor seinen eigenen Abgrund führen, ohne eine Erklärung für diesen zu geben, wohl aber hielten sie dazu an, sich ihm zu stellen. Hier hinein spielt auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Nach dieser Transformation, der Nachtmeerfahrt, ist man nicht mehr die selbe Person.
Wir befinden uns nun traditionell nach dem Aschermittwoch in der Fastenzeit. Innere Reflexion und Achtsamkeit, Einkehr und Askese bereiten den Helden im Monomythos auf sein neues Leben vor.
Ausgehend von diesen Überlegungen behandelten die Teilnehmer unserer Zusammenkunft Katharsis und Askese aus völlig unterschiedlichen Perspektiven.
Zu Beginn lernten wir den Mythos der Asante aus Ghana von Dubiaku kennen, der Frau Tod überlistete. Wir erkannten, wie nah die Transformationen des Lebens an der Grenze der Anderswelt, ja des Jenseits bewegen. Um sich als Person weiterzuentwickeln muss man sich Herausforderungen stellen und Risiken eingehen – auch auf die Gefahr hin, zu scheitern.
So hörten wir persönliche Berichte von sehr intensiven Grenzerfahrungen in einer Schwitzhütte oder während der Unterweisung in Holotropes Atmen. Uns wurde durch den Mythos der Ausmistung von Augias Stall durch Herakles bewußt, dass man sich mit dem Mist um einen – und in einem – konfrontieren muss, um ihn dann wegzuspülen, damit eine Veränderung erreicht werden kann. Danach stellte ich eine Interpretation und Analyse des Gedichtes „Archaischer Torso Apolls“ zur Diskussion, welches Rainer Maria Rilke im Jahre 1908 verfasste (siehe Handout „Katharsis“ zum Download in der linken Spalte).
Das Gedicht beginnt harmlos, indem es ein Kunstwerk beschreibt. Man kann sich an den Worten erfreuen und nach Belieben den Torso imaginieren oder sich an seinen letzten Museumsbesuch erinnern. Doch plötzlich kippt der Betrachtungswinkel. Gerade noch ist man selbst es, mit Rilke als Museumsführer, der den Torso betrachtet, und plötzlich heißt es: „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“. Gerade war ich es noch in meiner Rolle als Betrachter, der das Kunstwerk angesehen hat, und nun sieht es mich an. Und zwar umfassend und intensiv.
...denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht.
Du wirst gesehen, gleich wo Du bist, es gibt keine einzige Stelle, die Dich nicht sieht... denn Du selbst, mit dem apollinischen Licht Deines eigenen Bewusstseins erfüllt, bist es, der Dich sieht, und dem nichts verborgen bleibt.
Das Kunstwerk entzieht sich der passiven Rezeption, es wird zum Akteur. Es sieht mich an. Rilke hätte auch harmloser formulieren können „Versuch einmal, es aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten“ oder „Große Kunst macht etwas mit dir“
Der Funke des apollinischen Lichtes springt auf den Leser dieses Gedichts und daher ergibt sich die erschütternde Schlußzeile:
Du mußt dein Leben ändern.
Du hast gar keine Wahl. Was einmal erleuchtet war und gesehen wurde, das kann nie wieder dunkel und verborgen werden.
Du musst nun so leben, dass Du es ertragen kannst, in diesem Licht gesehen zu werden. Das ist mit Katharsis gemeint…
Meinen herzlichen Dank an alle Beteiligten für diesen wundervollen Abend!
Folgende Bücher wurden vorgestellt:
Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern – Über Anthropotechnik, Suhrkamp Verlag
Nikos Kazantzakis: Askese, Goldmann Verlag
Peter Kingsley: Reality, Crotona Verlag
Erich Fromm: Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, DTV
Lorenzo Ravagli: Aufstieg zum Mythos - Ein Weg zur Heilung der Seele, Urachhaus
Christiane Lutz: Jeder ist Herakles. Süchtig handeln oder zum Ich entscheiden, Bonz Verlag
Werner Tiki Küstenmacher: simplify your life: Einfacher und glücklicher leben, Campus Verlag
Joachim Daniel: Die Sprache des Mythos, CDs / mp3, über: http://sentovision.com